Hommage an die Langeweile
Einem sich selbst überlassenen Kind widerfährt sein größtes persönliches Unglück: Es verliert sein elektronisches Spiel, mit dem es sich an einem verregneten Tag die Zeit vertrieben hat, und muss nun versuchen, mit einem überaus tristen Tag fertig zu werden. Wie es die Welt um sich und sich selbst neu entdeckt, kann auch andere Kinder dazu ermutigen, einen glücklichen Tag ohne digitale Medien zu erleben – damit stand für die Jury fest, dass Beatrice Alemagnas Ein großer Tag, an dem fast nichts passierte (Beltz&Gelberg) 2019 den HUCKEPACK-Bilderbuchpreis verdient.
„Eine realistische Geschichte um ein aktuelles Thema, in dem sich Kinder und vorlesende Eltern wiederfinden können“, heißt es unter anderem in der Jury-Begründung. Doch zur Auszeichnung tragen letztlich noch viele weitere, feine Details bei. So beschäftigt sich zu Beginn der Geschichte nicht nur das Kind intensiv mit seinem Mini-Computer, auch die Mutter sitzt an ihrem Laptop. Es gibt keine Interaktion zwischen den beiden, bis sie das Spiel des Kindes beendet – „wieder mal“ – , und sich das Kind – ebenfalls „wieder mal“ – sein Spiel heimlich zurück erobert, um es an einem anderen, weniger beaufsichtigten Ort fortzusetzen. Beatrice Alemagna gelingt es in ihrem überwiegend in gedämpften Naturtönen gestalteten Bilderbuch, die digitalen Medien zwar kritisch zu beleuchten, sie aber dabei nicht zu verteufeln. Computer und elektronische Spielgeräte sind heutzutage ein selbstverständlicher Teil unseres Lebens. „Wie sollten darüber aber nicht vergessen, dass wir neben uns Menschen aus Fleisch und Blut haben, mit denen wir reden, die wir umarmen können“, erklärt die in Paris lebende Künstlerin in einem Interview. In ihrem Buch finden Mutter und Kind am Ende eines für beide einsamen Tages zueinander. Über einer Tasse Kakao sitzen sie einander zugewandt zusammen, lauschen gemeinsam derselben Stille und fühlen sich in dieser ruhigen Zweisamkeit wohl.
Beatrice Alemagna:
Ein großer Tag, den dem fast nichts passierte.
Aus dem Französischen von Anja Kootz.
Weinheim & Basel: Beltz&Gelberg, 2018.
46 Seiten. 14,95 €. Ab 5
Alemagnas Buch ist eine Hommage an die Langeweile, aus der Phantasie und Kreativität entstehen können, wenn man sie denn zulässt. Das Kind in ihrer Geschichte, das von den Bildern her sowohl Junge als auch Mädchen sein kann und damit ein hohes Identifikationspotential bietet, kann sich aus einer zunächst erdrückend wirkenden Lebenssituation aus Einsamkeit und Lustlosigkeit befreien und über Geräusche und Gerüche des Waldes Dinge in der Natur entdecken, die es faszinieren und begeistern. Dass es am Ende in seinem eigenen Spiegelbild das Lächeln seines im Bilderbuch abwesenden Vaters entdeckt, zeugt vom Stolz und gewonnenen Selbstbewusstsein des kindlichen Protagonisten. Es hat sich – um das Buch in den Kontext der Bewertungskriterien des HUCKEPACK Bilderbuchpreises zu stellen – quasi selbst HUCKEPACK genommen.