Preisträger

Im Jahr 2025 fiebern wir gerade auf das zehnte Preisbuch hin.

So viele wunderbare Bilderbücher haben wir seit der Gründung entdecken dürfen! Wir sind den Verlagen, Autor*innen und Illustrator*innen dankbar für ihre Ideen, ihr Fingerspitzengefühl, mit dem sie z.T. schwierige Themen zugänglich machen, und für die Ermutigung, die sie den Kindern damit schenken.

Unsere preisgekrönten Bilderbücher richten sich nicht nur an jüngere Kinder im "klassischen Bilderbuchalter", sondern können Kinder bis weit in ihre Schulzeit hin begleiten. Insofern finden hier auch pädagogische Lehrkräfte wertvolle Anregungen, zumal  es zu manchen Preisbüchern extra ausgearbeitete Unterrichtsmaterialien durch das Bremer Institut für Bilderbuchforschung gibt. Sprechen  Sie uns gern darauf an!

 

2025 – Coming soon

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2024 – So Dunkel!

Es war als Kind immer meine größte Angst, in einem Fahrstuhl stecken zu bleiben!

(Maren Bonacker, Jurymitglied)

Sich Huckepack nehmen zu lassen, erfordert vor allem Vertrauen. Vertrauen darauf, dass der Huckepacknehmer stark genug ist und den richtigen Weg einschlägt. Ein solches Vertrauen muss der namenlose Protagonist des diesjährigen HUCKEPACK-Preisbuches erst entwickeln – und entdeckt dabei, dass er sich letztlich selbst aus einer scheinbar ausweglosen Situation befreien kann. „So dunkel“ ist ein eindrucksvolles Bilderbuch, das nicht nur Kindern, sondern auch Erwachsenen Mut macht, sich im Vertrauen auf die eigene, innere Stärke selbst zu helfen.

Bereits zu Beginn der Geschichte ist der kleine Junge hin- und hergerissen zwischen zwei Vorgaben der Mutter, die für ihn in Widerstreit treten: Nicht zu spät nach Hause kommen! Nicht allein im Fahrstuhl fahren! Um die Mutter nicht in Sorge zu versetzen, entscheidet er sich (verbotenerweise) für den Fahrstuhl – und bleibt stecken! Da wird es „schwarz um ihn herum“ und „ganz still“. In diesem Schwarz sieht er nichts mehr und er ist zum Warten verdammt.

Diese aus seiner Sicht existentielle Notlage verängstigt ihn so sehr, dass er vor Anspannung die Luft anhält. Und so schaukelt sich während des Wartens seine Angst vor dem scheinbar unvermeidlichen Ende hoch – so hoch, dass letztlich nicht nur sein Herz, sondern alles in ihm klopft. Dieses fürchterliche Klopfen ist wie ein Weckruf, der Widerstand in ihm regt. Der Junge steht auf und versucht sich durch Faustschläge gegen die Fahrstuhlwand bemerkbar zu machen.

„Ich will raus!“, protestiert er laut- und willensstark. Sein Protest und seine Schreie um Hilfe verhallen jedoch. Der Widerstand des Jungen wird durch eine eindrückliche Schrei-Blase ins Bild gesetzt, in der die schwarzen, per Hand gezeichneten Großbuchstaben vor orangefarbenem Hintergrund zu lesen sind. Diese Seite steht beispielhaft für das gesamte Bilderbuch, in dem Text- und Bildelemente auf der Fläche variabel zueinander in Beziehung gesetzt sind.

Hierdurch werden gängige Erzählkonventionen des Mediums vom norwegischen Künstlerduo Constance Ørbeck-Nilssen und Øyvind Torseter unterlaufen. Die anreichernde Beziehung von Text- und Bildelementen bringt auch mit sich, dass nicht immer die Textebene erzählen muss, mitunter erzählt allein die Bildebene. Generell ist der Text auf das Wesentliche reduziert, indem kurze, prägnante Sätze dominieren.

Das Verhallen der Hilferufe kommt durch die Imitation filmischer Mittel wie dem Wechsel von halbtotaler Einstellungsgröße auf die Figur des Jungen hin zur Panorama-Ansicht auf den gesamten Hochhauskomplex besonders gut zur Geltung. Diese visuell ausgestellte und vom Jungen innerlich empfundene Einsamkeit führt dazu, dass seine Befürchtungen wiederkehren: Was, wenn die Mutter längst ungeduldig auf ihn wartet und sich sorgt; was, wenn die Fahrstuhlkabine um ihn herum tatsächlich zu schrumpfen scheint; was, wenn er als alter Greis noch immer im Fahrstuhl kauert…!? Die Befürchtungen des Jungen sind wie das gesamte Bilderbuch in den Farben Blau, Schwarz und Weiß gehalten, die von orangefarbenen Highlights kontrastiert werden. Schon die Farbgebung legt nahe, dass der Junge sich „wie in einem schwarzen Loch“ gefangen fühlt, aus dem er nicht entkommen kann. Und das Drücken des roten Knopfes ist für ihn und alle Kinder verboten. Auf diesen Knopf darf nur Mama drücken. Es ist zum Verzweifeln und so kommen dem Jungen die Tränen. Gezeigt wird das Weinen auf der Bildebene nicht explizit, es wird nur vage angedeutet. Durch das Weinen löst sich beim Jungen die Anspannung, was Raum für eine rettende Erinnerung schafft. Es ist die Erinnerung an den Vater, der plötzlich nach der Hand des Jungen zu greifen und diese drei Mal fest zu drücken scheint. Obwohl die Rolle des Vaters in der Familie unklar bleibt, wird sowohl auf Text- als auch auf Bildebene die Kraft der Verbindung zwischen Vater und Sohn deutlich: „Wenn Papa seine Hand hält, hat er keine Angst“, heißt es über die Gefühle des Jungen auf der Textebene. Begleitend hierzu hellt sich das Dunkel auf, warme Orangetöne durchfluten die Bildebene. Auf dieser sehen wir Vater und Sohn gemeinsam und dynamisch durch den Wald streifen. Sie sind auf dem Weg zu ihrem gemeinsamen geheimen Platz. in Platz am Ufer des Flusses, von dem aus sie beobachten können, wie das Licht das dunkle Wasser aufhellt – so sehr, dass beide zu verschmelzen scheinen. Und so ist es diese gemeinsame, geradezu lichte Erfahrung, die dem Jungen Kraft und Zuversicht im Hier und Jetzt spendet; eine transformierende Erfahrung, an die er sich gern erinnert und die ihn dazu befähigt, sich vom verinnerlichten Verbot der Mutter zu lösen und sich so aus der Situation durch das Drücken des roten Knopfes zu befreien.

Erzählt wird die ganze, überaus nahegehende Geschichte achronologisch, d.h., dass die Ereignisse nicht in der Reihenfolge erzählt werden, in der sie sich ereignet haben. Das Hin- und Herspringen zwischen Rückblenden und der Jetzt-Zeit korrespondiert in gelungener Weise mit dem inneren Hin- und Hergerissensein des Jungen.

Am Ende wartet vor dem sich öffnenden und mit Licht füllenden Fahrstuhl übrigens die Mutter, die ihren Sohn in die Arme schließt. Das zeigt in diesem doppelseitigen Finale ausschließlich die Bildebene. Diese deutet auch an, dass es ebenso gut die im Vordergrund stehende und freundlich lächelnde Haustechnikerin gewesen sein könnte, die den Fahrstuhl repariert haben könnte. Eine gelungene Pointe zum Schluss, in der die feinen Mehrdeutigkeiten gipfeln, die im Verlauf der Erzählung immer mal wieder aufgeblitzt sind.

In der Gesamtschau wird der Stellenwert, der Vätern für die Resilienzfähigkeit ihres Kindes zukommt, auf der Bildebene überdeutlich akzentuiert: Vordergründig manifestiert sich dies in den orangefarbenen Schirmmützen, die Vater und Sohn tragen. Diese trägt der Sohn auch in dem Moment größter Einsamkeit und Angst auf seinem Kopf, sodass es nur folgerichtig erscheint, dass der Junge diese als Verbindungsstück zu seinem Vater vom Anfang bis zum Ende der Erzählung mit sich geführt hat. Davon, wie feinsinnig dieses farbliche Leitmotiv ebenfalls von Verlagsseite in das Bilderbuch eingewoben worden ist, zeugen u.a. auch der Buchrücken oder der von Illustrator Øyvind Torseter per Hand gestaltete Titelschriftzug „So dunkel!“ auf dem Buchdeckel, die in derselben Farbe gehalten sind wie die Schirmmützen.

So wird konsistent und überzeugend mittels der multimodalen Möglichkeiten des Bilderbuchs zum Ausdruck gebracht, dass Kinder durch die Erinnerung an zurückliegende Erfahrungen in Notsituationen darin bestärkt werden können, mutig voran zu gehen und damit ihre eigene Entwicklung ein Stück weit mitzugestalten.

Marc Kudlowski,
Universität zu Köln

2023 – Wird schon schiefgehen, Ente!

Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen!

(Murphy)

Ente und Maus brechen zu einem Spaziergang auf. Doch Ente hat Angst. Was könnte nicht alles passieren? Maus lässt sich nicht beirren. Sie hat für alles vorgesorgt und nimmt Ente im übertragenen Sinne HUCKEPACK, indem sie unaufgeregt vorlebt, wie mit kleinen Stolperstellen im Leben umgegangen werden kann. Ohne große Worte zeigt sie so, dass es möglich ist, unserer Welt ohne Zaudern zu begegnen.
Ein tolles Bilderbuch für Kinder und Eltern, die alle sehr viel daraus mitnehmen können.

Der Biber hat einen neuen Damm gebaut – klar, dass Ente und Maus ihn zu diesem An-lass einmal besuchen. Oder? Bereits die konjunktivische Antwort „Könnten wir“ der Ente deutet darauf hin, dass sie von der Idee nur so mittelmäßig begeistert ist und ein Blick auf die Garderobe von Ente und Maus lässt auch gut erahnen, warum.
Während sich auf der
Seite der Maus neben Fundstücken aus der Natur lediglich Fernrohr, Ball, Jacke und Tasche befinden, ist die Seite der Ente überfüllt mit Utensilien, die sie vor den Unwägbarkeiten des Unterwegsseins schützen: zwei Helme, zwei Regenschirme, drei Paar Stiefel, drei Schals, diverse Westen und Jacken, Sonnenbrille, Ohrenschützer. Neben der umfassenden Ausstattung weist auch ein Bild an der Wand, auf dem die Ente mit Schwimmflügeln im Wasser steht, auf ihre Skepsis gegenüber Außenaktivitäten hin. Drinnen erscheint sie hingegen als wenig gesundheitsbewusste Genießerin, denn als der Brief des Bibers eintrudelt, schaufelt sie sich gerade den dritten Pfannkuchen auf den Teller und der Ahornsirup steht auch schon bereit. Diese zahlreichen Details auf der Bildebene vermitteln also bereits auf der ersten Doppelseite einen genauen Eindruck von den beiden ungleichen Mitbewohnerinnen, der im weiteren Verlauf vor allem durch ihre Interaktion erweitert wird. Laufen sie zunächst noch schweigend in der Weite der idyllischen Landschaft nebeneinander her – die Ente mit ängstlichem Blick nach oben, die Maus mit neugierigem Blick geradeaus – fällt die Ente ab der dritten Doppelseite in einen Monolog, in dem sie diverse Gefahren heraufbeschwört: man könnte sich verlaufen oder erkälten, man könnte verhungern oder verdursten, man könnte vom Fuchs gefressen oder von Beeren krank werden und nicht zuletzt wegen der vermeintlich morschen Brücke in die Schlucht stürzen. Die Bilder variieren zwischen einzelnen Ausschnitten, in deren Fokus das mimisch und gestisch zum Ausdruck gebrachte Unwohlsein der Ente steht und ganzseitigen Panoramadarstellungen, die die von der Ente wahrgenommenen Bedrohungen relativieren. Dadurch wird z.B. der große Schatten, der auf die Ente fällt, als Folge einer kleinen Schäfchenwolke und der hinter dem Stein vermutete Fuchs als Kartenspielpartie zwischen Dachs und Eichhörnchen entlarvt. Zentral für die Erzählung ist auf den Bildern aber vor allem die vor-wiegend wortlose Reaktion der Maus auf die Befürchtungen der Ente. Zuversichtlich pfeifend geht sie voraus, reicht ihrer Mitbewohnerin Snack und Tee, nimmt sie entschlossen an der Hand und widerlegt schließlich die wiederkehrende Behauptung, sie hätten sich verlaufen, mit einem schlichten: „Wir sind da.“ Statt die Ängste der Ente zu entkräften oder klein zu reden, geht sie situativ bedürfnisorientiert darauf ein und obwohl sie selber einen grundlegend an-deren Blick auf die Welt hat, kann sie ihre Freundin ernst und in ihrer Veranlagung an-nehmen. Durch diesen unaufgeregten, situativ wertschätzenden Umgang mit der Angst der Ente zeichnet sich die Maus als HUCKEPACK nehmende Figur, aber auch das Buch insgesamt als Huckepackbuch aus. Denn Bilderbücher, die das Thema Angst aufgreifen, sind häufig vor allem „Mutmachbücher“, d.h. Mut wird als Lösung für das Problem der Angst dargestellt und Kinder sollen positiv darin bestärkt werden, die negativ konnotierte Eigenschaft der Angst zu überwinden, indem sie Mut aufbringen. Demgegenüber ermutigt Wird schon schief gehen, Ente! dazu, Angst nicht als Manko, sondern als Charaktereigenschaft anzuerkennen und darauf zu vertrauen, dass wahre Freunde damit umzugehen wissen. Ob die Ente nach dem einstimmig für schön befundenen Besuch beim Biber – bei dem alle unbeschwert direkt vor den aufgestauten Wassermassen sitzen – ihre Sorgenlitanei fortsetzt, bleibt letztlich der Deutungshoheit der Rezipient*innen überlassen und damit auch dem individuellen Enten-Anteil, der in allen von uns steckt.

Dr. Elisabeth Hollerweger
Bremer Institut für Bilderbuchforschung

2022 – Ich bin wie der Fluss

... und wenn ich heute vor Publikum lese, dann wissen die Leute, dass das manchmal etwas länger dauert. Und das ist in Ordnung.

Jordan Scott

In seinem Buch Ich bin wie der Fluss erzählt Jordan Scott einfühlsam aus der Perspektive eines Jungen, der stottert, und verdeutlicht die Schwierigkeiten und inneren Kämpfe von Betroffenen. An dem zentral vermittelten Gedanken, der schließlich zum Perspektivwechsel und somit zur Versöhnung mit der eigenen Unzulänglichkeit führt, entfaltet sich das Huckepack-Potential dieses Buches: Nicht nur Menschen mit ähnlichen Schwierigkeiten werden getragen und getröstet, vielmehr ist die Botschaft auch auf andere menschliche Versagensängste zu übertragen.

Für den namenlosen Jungen wiederholt sich jeden Morgen die Situation von Sprachlosigkeit und der Angst, sich der Umwelt sprachlich zuzumuten bzw. zuzutrauen. Anhand von Sprachbildern um die Anfangslaute B, K und M wird veranschaulicht, was beim Stottern passiert und wie Laute zu Feinden anstatt zu Helfern in der Kommunikation werden. So treibt etwa das B in Baum Wurzeln in seinem Mund und umzingelt seine Zunge. Hilflosigkeit und Verzweiflung machen sich breit. Das ändert sich auch nicht mit einem Ortswechsel, und somit werden Fragen oder Sprechanlässe in der Schule für den Jungen zu gefürchteten Momenten. Wenn sich das Sprechen nicht vermeiden lässt und alle in der Klasse das Stottern hören und sehen, verstärkt sich das Gefühl, nicht dazuzugehören und anders zu sein.

Sydney Smith als Illustrator greift die stummen Laute in seinen Aquarellbildern auf. In krähenförmigen Mustern, die sich über das Gesicht des Jungen ziehen, wird die hemmende Auswirkung des Stotterns greifbar. Auf einigen Seiten ziehen sich Schleier wie Nebelschwaden durchs Bild, sodass die aquarellgezeichneten Situationen verschwommen sind und die Einsamkeit illustrieren.

Als es an einem Schultag besonders schlimm ist, holt ihn sein Vater ab und fährt mit ihm an den Fluss. Der Ort ist ruhig und erfordert keine Sprechhandlungen, was sich wiederum in diesmal unverschleierten Aquarellen und deutlichen warmen Farben widerspiegelt. Dennoch ist das Herz des Jungen noch aufgewühlt und bei der Erinnerung an das Gelächter der Klasse füllen sich »[s]eine Augen […] mit Regen«. Für eine Kommunikation dieser Art bedarf es keiner Worte und der Vater versteht. Dies ist der Moment, in dem er seinem Sohn ein Bild mitgibt, welches dessen Selbstbild grundlegend verändert:

»Siehst du das Wasser? Wie es sich bewegt? Das ist wie du sprichst. Das bist du.«

In Close-ups, die die interne Fokalisierung aufgreifen, wird nun vergegenwärtigt, wie der Junge sich diesen bildlichen Vergleich zu eigen macht, indem er das Wasser als eine sprudelnde und wirbelnde Kraft des »stolzen Fluss[es]« wahrnimmt. Doch nicht nur die energische Seite des Flusses wird ihm zum tröstlichen Begleiter, auch in dem »stillen, ruhigen Fluss […], wo das Wasser weich und sanft schimmert« kann er sich wiederfinden. Während diese Überlegungen auf der Textebene angestellt werden, taucht der Junge auf der Bildebene schwimmend in die Fluten ein und erobert sich das Flussgleichnis auf körperlich wahrnehmbarer Ebene. An dieser Stelle wird gestalterisch ein Fokus gelegt, da eine Doppelseite zum Ausklappen die Bilder vergrößert.

Smiths Aquarelle laden zum Verweilen bei den bildlichen Darstellungen ein, die auch die Rezipient*innen das Flussgleichnis erleben lassen. Wie der Junge tauchen sie in den (Sprach-)Fluss ein und schwimmen mit ihm bis »hinter d[ie] Stromschnellen«, wo er und der Fluss schweigen. Damit eröffnet das Buch auch die Möglichkeit, sich gegen das Sprechen zu entscheiden und stellt Schweigen als etwas Natürliches dar.

Am nächsten Tag ist alles wie immer – mit dem Unterschied, dass der Junge in der Schule über den Fluss spricht und dabei wie der Fluss ist. Somit zeigt das Ende des Buches, wie der Junge durch das Flussgleichnis den Mut findet, sich vor die Klasse zu stellen und über seinen Lieblingsort zu sprechen. Trotz der positiven Wendung ist es kein vereinfachendes Ende, denn der Schlusssatz lautet: »Ich bin wie der Fluss.« (»And I talk like a river.«) Hierin deutet sich an, dass der Junge immer noch stottert, er aber einen Verbündeten gefunden hat: den Fluss. Das lähmende Gefühl der Einsamkeit hat keine Kraft mehr. Auch wenn die Problematik nicht überwunden ist und vielleicht sein Leben lang präsent sein wird, erhebt der Junge doch seine Stimme und lässt sich von seinen Versagensängsten nicht abhalten.

Genauso wie der Junge von seinem Vater zur Selbstannahme ermutigt wird, werden die Leser*innen ermutigt. Sie können in der Begegnung des Jungen mit seinem Vater im übertragenen Sinne Huckepack genommen werden und in ihm einen Verbündeten finden, so wie er in dem Fluss einen Begleiter gefunden hat.

Sarah Sudikatis
Bremer Institut für Bilderbuchforschung

2021 – Ein eiskalter Fisch

Kuscheltyperei mit eiskaltem Fisch

Ein Erwachsener, der ein Kind auf seinen Schultern trägt und es dabei an den Armen festhält – ein Kind, das auf den Schultern eines Erwachsenen sitzt und dabei an den Armen festgehalten wird: Diese innige Szene legt bereits auf dem Cover von Ein eiskalter Fisch einen Huckepackgedanken nahe, der für die Auszeichnung von Bilderbüchern mit dem Huckepackpreis ausschlaggebend ist. Die Geste der Verbundenheit wird durch die Rückansicht der Figuren zusätzlich hervorgehoben und bildet gleichzeitig einen Kontrast zum Titel, der sich in den ersten Sätzen noch verstärkt:  

„Heute war der schönste Tag in
meinem ganzen, langen Leben.
Heute ist Onno gestorben.“

Die Irritation, die der Superlativ „schönste“ in Verbindung mit dem Tod zunächst hervorruft, relativiert sich in der kindlichen Logik des erzählenden Protagonisten. Wie sich seine Trauer um den Fisch Onno in der völlig ungewohnten Emotionalität des Vaters auflöst, wird in tiefgründigen Imitationen kindlichen Sprachgebrauchs veranschaulicht:

Papa hat es nämlich nicht so mit der Gefühlsduselei. 
Sagt er. 
Aber heute hat er sich gefühlt. 
Und das war überhaupt nicht dusselig.“

Dieser Bestandsaufnahme des Ich-Erzählers entsprechend rückt auf den folgenden drei Doppelseiten die Verbundenheit zwischen Vater und Kind in den Fokus, die vom zaghaften Anlehnen über eine innige Umarmung bis hin zum gemeinsamen Liegen auf der Couch reicht – eine richtige „Kuscheltyperei“ eben. Die Exklusivität dieser Nähe manifestiert sich nicht zuletzt in der wiederholten „Überraschung“, die das Kind erlebt: „Das war das Schönste überhaupt. Und eine Überraschung. […] Aber heute. Die Überraschung. In Papas Armen war es weich und warm.“

Was es mit dieser plötzlichen „Gefühlsduselei“ des Vaters auf sich hat, entfaltet sich erst nach und nach zwischen den Zeilen und vor allem im engen Zusammenwirken von Text und Bild. Denn während sich das Kind voller Hingabe den Vorbereitungen von Onnos Beerdigung widmet, wird immer wieder auf die elterliche Beziehung als zusätzliche Erzählebene verwiesen. So dient die hinterlassene Notiz der Mutter an den Vater dem Kind als Vorlage für seinen Abschiedsbrief an Onno: „Ich liebe dich sehr auch wenn du ein eiskalter Fisch bist.“ Die Wichtigkeit dieser Botschaft wird dadurch unterstrichen, dass die Außensicht auf die Figur hier ergänzt wird durch eine Mitsicht mit der Figur und die handgeschriebenen, teilweise verdrehten Großbuchstaben aus dem Blickwinkel des Protagonisten lesbar werden. Fungiert der Fisch in dem ursprünglichen Satz der Mutter allgemein als Metapher für den Vater und ist erst in der Veränderung des Adressaten auch wörtlich zu verstehen, wird die Mutter auch ganz konkret mit dem Fisch Onno verglichen: „Onno war nämlich mein einziger Fisch. So wie Mama Papas einzige Frau ist. Zum Glück ist Mama nicht tot. […] Mama kommt immer wieder.“ Die Verbindung zwischen der Mutter und dem toten Fisch stellt der Protagonist zusätzlich über den Geruchssinn her, indem er Onno in eine Schüssel legt, die er mit den Orchideen und dem Parfüm der Mutter füllt.

Dass die Erzählung des Kindes von der Chronologie der Ereignisse abweicht, offenbart sich in dem Moment, in dem der Vater das Kind im Bett mit dem nach der Mutter riechenden Fisch findet. Da die Schüssel mit den Blüten bereits auf der zweiten Doppelseite zu sehen ist, werden „Gefühlsduselei“ und „Kuscheltyperei“ erst im Rückgriff als Konsequenzen der Leere sichtbar, die der Fisch im Aquarium und die Mutter in der Familie hinterlassen haben. Diese Leere verstärkt sich durch die Omnipräsenz der Mutter in verschiedenen Gegenständen wie dem Hochzeitsfoto, dem offenen Lippenstift, ihrer Kaffeetasse und Bildern mit Sprüchen wie „Home is where your heart is“ oder „Alles wird gut“. Die vorletzte Seite zeigt sie schließlich beim „Luftschnappen“ außerhalb des familiären Umfelds, bevor sie rechtzeitig zu Onnos „Beerdigung“ zurückkehrt. Da dieser „nicht in den Himmel kommt. Sondern in die Elbe.“ wird die Feierlichkeit im Badezimmer vollzogen, in dem Vater und Mutter mit geschlossenen Augen hinter ihrem orchideenstreuenden Kind stehen und eine harmonische Einheit bilden. Das durch die Typografie hervorgehobene „WIR LIEBEN DICH“ des Vaters ist auch hier nicht eindeutig auf Onno, sondern ebenso auf die Mutter zu beziehen und gleichzeitig eine klare Gefühlsäußerung des „eiskalten Fisches“. Die Diskrepanzen zwischen den Eltern, die durch ihre verschieden gemusterten Kleidungsstücke unterstrichen werden, treten schließlich zurück hinter der gemeinsamen Aufgabe des Abschiednehmens, die sie mit ihrem Kind bewältigen: „Dann haben wir unsere Hände zusammen auf die Klospülung gelegt und gedrückt.“ 
Die erste Doppelseite des Buches, die die Familie zusammen mit einem Fotoalbum auf der Couch zeigt, bildet damit den Endpunkt der Geschichte und gleichzeitig den Anfangspunkt der kindlichen Erzählung.

Was beim ersten Blick auf das Cover also zunächst als klassische Huckepacksituation erscheint, erweist sich bei genauer Lektüre des kongenialen Schrift- und Bildtextes als vielschichtige ‚Huckepacknehmerei‘. Denn der Vater kann sein Kind letztlich erst Huckepack nehmen, als er zu betroffen ist, um der selbst auferlegten Rolle des starken und steifen Mannes weiterhin zu entsprechen. Das Kind wird in seiner eigenen Traurigkeit von der Traurigkeit des Vaters Huckepack genommen, sodass der Verlust seines Fisches von dem Gewinn väterlicher Nähe überlagert wird. Das Bedürfnis, von seinem Vater getragen und gehalten zu werden, wird dem Kind im Moment der Erfüllung schlagartig bewusst und durch die Kombination von authentischen Schilderungen und eindrucksvollen Bildern nachvollziehbar zum Ausdruck gebracht.

Diese ästhetische Zuspitzung eines diffusen Mangelgefühls zeichnet schließlich auch das Buch selbst als Huckepacknehmer aus. Denn indem es väterliche Unnahbarkeit und familiäres Ungleichgewicht als Grundmuster menschlicher Erfahrung aufgreift und aus kindlicher Perspektive ausgestaltet, übersetzt es vage empfundene Defizite in eingängige Worte und Bilder und kann somit nicht nur Väter und Söhne auf der Suche nach neuen Männlichkeitsidealen Huckepack nehmen, sondern all jene, die mit emotionaler Unzulänglichkeit konfrontiert sind.  


Elisabeth Hollerweger
Bremer Institut für Bilderbuchforschung

2020 – Adrian hat gar kein Pferd

Über die Macht der Phantasie

Hat der versponnene Adrian wirklich ein Pferd oder lügt er bloß? Für seine Klassenkameradin Zoe ist die Antwort klar! Aber gibt es vielleicht noch eine dritte Möglichkeit? Behutsam bestärkt Zoes Mutter sie darin, selbst darauf zu kommen, was für ein Geheimnis sich hinter Adrians Pferd verbirgt.
Mit Bilderbüchern Kinderseelen zu stärken, mit Geschichten und Bildern Kinder zu tragen und ihnen über das Vorlesen von Bilderbüchern zu mehr Stärke und Weitsicht zu verhelfen − das sind die Ziele des 2016 ins Leben gerufenen Bilderbuchpreises HUCKEPACK. In Adrian hat gar kein Pferd lernen wir an Zoes Seite, wie wichtig es ist, Menschen mit Respekt und Empathie zu begegnen – und dass man gut daran tut, zwischen Lüge und Traum zu unterscheiden.
Ein wunderbares Vorbild für ein besseres, verständnisvolleres Miteinander.

2019 – Ein großer Tag, an dem fast nichts passierte

Hommage an die Langeweile

Einem sich selbst überlassenen Kind widerfährt sein größtes persönliches Unglück: Es verliert sein elektronisches Spiel, mit dem es sich an einem verregneten Tag die Zeit vertrieben hat, und muss nun versuchen, mit einem überaus tristen Tag fertig zu werden. Wie es die Welt um sich und sich selbst neu entdeckt, kann auch andere Kinder dazu ermutigen, einen glücklichen Tag ohne digitale Medien zu erleben – damit stand für die Jury fest, dass Beatrice Alemagnas Ein großer Tag, an dem fast nichts passierte (Beltz&Gelberg) 2019 den HUCKEPACK-Bilderbuchpreis verdient.
„Eine realistische Geschichte um ein aktuelles Thema, in dem sich Kinder und vorlesende Eltern wiederfinden können“, heißt es unter anderem in der Jury-Begründung. Doch zur Auszeichnung tragen letztlich noch viele weitere, feine Details bei. So beschäftigt sich zu Beginn der Geschichte nicht nur das Kind intensiv mit seinem Mini-Computer, auch die Mutter sitzt an ihrem Laptop. Es gibt keine Interaktion zwischen den beiden, bis sie das Spiel des Kindes beendet – „wieder mal“ – , und sich das Kind – ebenfalls „wieder mal“ – sein Spiel heimlich zurück erobert, um es an einem anderen, weniger beaufsichtigten Ort fortzusetzen. Beatrice Alemagna gelingt es in ihrem überwiegend in gedämpften Naturtönen gestalteten Bilderbuch, die digitalen Medien zwar kritisch zu beleuchten, sie aber dabei nicht zu verteufeln. Computer und elektronische Spielgeräte sind heutzutage ein selbstverständlicher Teil unseres Lebens. „Wie sollten darüber aber nicht vergessen, dass wir neben uns Menschen aus Fleisch und Blut haben, mit denen wir reden, die wir umarmen können“, erklärt die in Paris lebende Künstlerin in einem Interview. In ihrem Buch finden Mutter und Kind am Ende eines für beide einsamen Tages zueinander. Über einer Tasse Kakao sitzen sie einander zugewandt zusammen, lauschen gemeinsam derselben Stille und fühlen sich in dieser ruhigen Zweisamkeit wohl.

Alemagnas Buch ist eine Hommage an die Langeweile, aus der Phantasie und Kreativität entstehen können, wenn man sie denn zulässt. Das Kind in ihrer Geschichte, das von den Bildern her sowohl Junge als auch Mädchen sein kann und damit ein hohes Identifikationspotential bietet, kann sich aus einer zunächst erdrückend wirkenden Lebenssituation aus Einsamkeit und Lustlosigkeit befreien und über Geräusche und Gerüche des Waldes Dinge in der Natur entdecken, die es faszinieren und begeistern. Dass es am Ende in seinem eigenen Spiegelbild das Lächeln seines im Bilderbuch abwesenden Vaters entdeckt, zeugt vom Stolz und gewonnenen Selbstbewusstsein des kindlichen Protagonisten. Es hat sich – um das Buch in den Kontext der Bewertungskriterien des HUCKEPACK Bilderbuchpreises zu stellen – quasi selbst HUCKEPACK genommen.

2018 – Ich war’s nicht!, sagt Robinhund

Nicht länger falsch beurteilt werden

In der Kita ist Robinhund nicht sehr glücklich: Immer passiert ihm etwas, und immer zeigen alle mit dem Finger auf ihn. Verschüttete Milch, eine kaputte Schaukel, ein verschossener Fußball – immer ist Robinhund schuld.
„Ich war’s nicht!“, sagt Robinhund bei jeder erneuten Anklage schlägt so eine Brücke zum gleichnamigen Buchtitel. Leider glaubt Robinhund niemand; die Freunde nicht, und auch nicht die Erzieherin, die Robinhund schließlich zu Sonja ins Büro bringt, wo er sich winzig klein und elend neben der respekteinflößenden Kita-Chefin fühlt. Und: Oberflächlich betrachtet war er’s natürlich doch! Er hat mit der Milch hantiert, er war auf der Schaukel zu wild, und den Ball hat natürlich er mit großem Spaß und wilder Freunde geschossen. Niemand aber hinterfragt, warum er immer wieder seine Unschuld beteuert. Die Situation in Sonjas Büro ist aus Robinhunds Perspektive so verängstigend, dass er wegläuft und sich im Gebüsch verkriecht. Niemand soll ihn dort finden; Robinhund möchte allein bleiben. Bis in den frühen Abend hockt er da und beobachtet unter Tränen, wie alle anderen abgeholt und umarmt werden. Nur er ist ganz allein. Endlich kommt der große Bruder, der sofort weiß, wo er suchen soll und Robinhund allein durch sein Dasein zum Reden bringt. In seiner kindlichen Logik erklärt ihm Robinhund, dass er nichts getan habe, weil doch alles ohne Absicht geschehen sei – und diese Aussage ist so ehrlich, so frei, dass sie zu Tränen rührt. 
„Ich war’s nicht!“, sagt Robinhund ist ein Schatz für die vielen Kinder, auf die – wie auf Robinhund – immer mit dem Finger gezeigt wird. Denn durch Robinhunds Beispiel erfahren sie, dass sie geliebt werden, auch wenn es ihnen manchmal gerade nicht so vorkommt. Auch für Pädagogen ist das Buch von großer Bedeutung, zeigt es ihnen doch, dass wir uns in der Alltagshektik zu schnell vom ersten Eindruck täuschen lassen und manche Situation nicht ausreichend hinterfragen. Ein wunderbares Bilderbuch – und ein gutes Beispiel, um zu zeigen, wie Bilderbücher seelisch zu stärken vermögen!


Maren Bonacker
Phantastische Bibliothek Wetzlar

2017 – Klein

KLEIN braucht Hilfe von Großen.
In der Kita geht es „Klein“ gut. Da erlebt es helle, fröhliche Tage und es fühlt sich glücklich, weil die Erzieherin, Frau Traulich, sogar Zeit hat, es manchmal am Ohr zu kraulen. Wenn es zu Hause mit STARK und GROSS friedlich ist und kein Streit herrscht, mag Klein es auch.
Aber zu Hause streiten die beiden Erwachsenen GROSS und STARK erbittert am Abendbrottisch. Sie streiten so, dass sich Klein vor Angst unter dem Tisch verstecken muss. Dann packt GROSS den Koffer und geht „wieder einmal“. STARK bleibt weinend zurück. Aber Klein darf nicht trösten, es wird abgewiesen und angebrüllt. Es „rettet“ sich zum Nachbarn „JEMAND“. Es verrät GROSS und STARK nicht. Aber es kommt zur Ruhe. Es geht ihm gut bei JEMAND. Zuhause liegt STARK abgewandt und apathisch im Bett. Klein muss alleine schlafen gehen.
Am nächsten Tag erzählt Klein im Kindergarten Frau TRAULICH alles und verrät ihr, wie schlecht es sich fühlt und dass es zu Hause Angst hat. Da wird es getröstet und in den Arm genommen. Frau Traulich telefoniert und telefoniert und organisiert Hilfe.
Auch JEMAND weiß jetzt, dass Klein jemanden braucht. So hat Klein ein gutes Plätzchen mehr auf der Welt. Es sitzt auf dem Schoß von JEMAND, der ihm vorliest. Das ist exakt die Situation des Projektes „Vorlesen in Familien“ in Wetzlar, aus der die Idee des Huckepack-Preises hervorgegangen ist: Ein Erwachsener mit einem Buch liest einem Kind vor und nimmt es „Huckepack“.
Die Botschaft der schwedischen Illustratorin und Autorin ist es, dass es das gute Recht von Kindern ist, dass es ihnen gut geht und dass sie ohne Angst leben können. Ein Kind darf zu „Großen“ gehen und sie um Hilfe bitten. Und es ist die Aufgabe der Großen, ihm zu helfen.
Es war richtig, dass Klein der Frau TRAULICH erzählt hat, dass es zu Hause oft Angst hat. Frau Traulich nimmt Klein auf den Schoß und sagt ihm, dass es klein und gut ist und dass man ihm keine Angst machen, es nicht stoßen und schlagen darf. Sie sagt ihm, dass seine Großen sich um es kümmern müssen, damit es viele gute Tage hat.
Das sagt sie auch all den anderen Kindern, die dieses Buch zusammen mit einer vertrauten Person anschauen. Es macht den Kindern Mut, sich bei Großen Hilfe zu suchen und den Erwachsenen, sich zu kümmern.
Diese kleine Geschichte ist anrührend und geht unter die Haut. Sie ist notwendig und hinreißend. Das Buch ist so klein, dass man es leicht übersehen kann. Und das minimalistisch hingestrichelte Wesen auf dem Titel ist so klein, dass das kleine Buch sehr groß darum herum wirkt.
Die Wuselwesen der Schwedin Stina Wirsén sind krakelig gezeichnete Figuren von erstaunlicher Ausdruckskraft. Diesen Wuselwesen sieht man an, ob sie ängstlich oder beschützend sind, zu- oder abgewandt. Reduziert auf einfachste Formen und wenige Szenen gelingt es Wirsén, das Ausmaß von Kleins Ängsten und seiner Verlassenheit so zu schildern, dass die Erwachsenen einfach helfen müssen – und Groß und Klein beim Vorlesen gerührt sein werden. Ein großes kleines Buch empfiehlt sich somit den Großen und den Kleinen.

Gabriela Wenke
freie Journalistin, Reborn

2016 – Ein großer Freund

Freunde und Freundinnen zu gewinnen gehört zu den kindlichen Entwicklungsaufgaben. Sobald das Kind sich aus dem Inneren der Familie hinausbegibt, möchte es sich auch im Außen aufgehoben fühlen. Dazu sind Freunde wichtig. Wie wunderbar, wenn es gelungen ist, einen Freund zu finden. Und so beginnt auch unsere Bilderbuchgeschichte »Ein großer Freund«.
»Mama, endlich« ruft das kleine Rabenmädchen glücklich, als es eines Tages nach Hause geflogen kommt. »Mama, endlich habe ich einen Freund gefunden! Sieh, er steht vor unserem Nest.«
Gehen wir in Gedanken einen Moment lang in diese Zeit der ersten Freundschaften zurück. Erinnern wir uns an den ersten Freund, die erste Freundin? War diese Freundschaft unseren Eltern recht oder gab es Vorbehalte? Bilderbücher, die von solch elementaren Erfahrungen er- zählen, sprechen erwachsene wie kindliche Leser an, sie erzeugen Resonanz. Aber schauen wir uns an, wovon unsere Geschichte – in Sprache und Bild – weiter erzählt. Blicken wir dabei zunächst einmal nur auf den Text des Autors Babak Saberi: Der neue Freund ist der Mutter nicht recht. Er ist zu groß findet sie, weil sie feststellen muss: »Das ist ja ein Elefant!« Der kleine Rabe allerdings lässt sich nicht einschüchtern. Und seine Einwände gegen die Vorbehalte der Mutter spiegeln wunderbar die Einfachheit kindlichen Denkens:
Der kleine Rabe war erstaunt: »Mama, wer sagt denn, wir seien nicht gleich groß? Schau, wenn ich etwas tiefer fliege und er etwas in die Höhe springt, dann sind wir genau gleich groß.«
Auch wenn Rabe und Elefant sich ausruhen, hinlegen, ein wenig dösen, sind sie, so argumentiert scharfsinnig das Rabenmädchen, etwa gleich groß. Allerdings ist die Mutter so noch nicht zu besänftigen. Sie warnt ihre Tochter, nicht mit dem Großen herumzutollen und nicht mit ihm in den Fluss hineinzulaufen. Ganz schlicht – so kindlich wie erwachsen antwortet die Tochter:
»Nein Mama, so was mache ich nicht. Ich bin doch kein Elefant.« Die Mutter hat immer noch Bedenken und in der letzten Episode dieser Auseinandersetzung kommt sie auf einen Einwand, der dem Leser zunächst einleuchten muss: »Sag mal, kannst du überhaupt Elefantisch? … Wie sprichst du denn mit ihm?«
Aber auch damit ist das Rabenmädchen nicht zu verunsichern. Mit Zeichen und Blicken verständigen wir uns, antwortet es: »Wir werden uns die schönsten Geschichten erzählen.«
Zur einfachen und klaren Sprache, die vom Handlungsverlauf erzählt, kommen die in dunklen, aber warmen Farben gehaltenen Zeichnungen Mehrdad Zaeris mit ihrer eigenen Erzählkraft und der Erzählung des inneren Geschehens hinzu. Beeindruckend, wie ausdrucksstark der Schnabel eines Raben daherkommen kann, mal freudig einladend, mal fragend-ablehnend blickend. Zwei Jahre hat Mehrdad Zaeri an diesem Buch gearbeitet und seine Bildsprache, wie er in einem Interview erzählt, »immer weiter reduziert und einfacher gemacht«. Liebevoll selbstbewusst blickt das Rabenmädchen im letzten Bild. Seine Mutter hat ihm ganz am Ende der Geschichte den Ratschlag erteilt: »Komm nicht auf die Idee, ihm zu zeigen, wie er von der Mauer springen kann.« Und so liebevoll selbstbewusst wie der Blick ist auch die Antwort: »Mama, mach dir keine Sorgen, natürlich mache ich das nicht. Er ist ein Elefant, ein einfacher Elefant. Kein fliegender Elefant.«
Dass Freundschaften unter manchmal sehr unterschiedlichen Kindern den Erwachsenen nicht immer genehm sind, ist kindliche Alltagserfahrung. »Auch meine Mutter hat mich früher stets ermahnt, mit gleich Großen zu spielen«, erinnert sich Babak Saberi, der iranische Autor der Geschichte. »Aber Größe hat so viele unterschiedliche Bedeutungen. Ich glaube, es ist etwas vom Wichtigsten, dass wir in einer Freundschaft aneinander wachsen können.«
Zu diesem Wachsen trägt auch das Bilderbuch »Ein großer Freund« bei. Wer Kindern diese Geschichte vorliest und mit ihnen die Bilder betrachtet, der unterstreicht die Bedeutung vorbehaltloser Freundschaft. Mit der Geschichte nimmt er die Kinder Huckepack, indem er ihnen Bilder und Vorbilder für Offenheit, Toleranz und soziale Phantasie bietet.


Prof. Dr. Jochen Hering
Bremer Institut für Bilderbuchforschung