2021 – Ein eiskalter Fisch

Kuscheltyperei mit eiskaltem Fisch

Ein Erwachsener, der ein Kind auf seinen Schultern trägt und es dabei an den Armen festhält – ein Kind, das auf den Schultern eines Erwachsenen sitzt und dabei an den Armen festgehalten wird: Diese innige Szene legt bereits auf dem Cover von Ein eiskalter Fisch einen Huckepackgedanken nahe, der für die Auszeichnung von Bilderbüchern mit dem Huckepackpreis ausschlaggebend ist. Die Geste der Verbundenheit wird durch die Rückansicht der Figuren zusätzlich hervorgehoben und bildet gleichzeitig einen Kontrast zum Titel, der sich in den ersten Sätzen noch verstärkt:  


„Heute war der schönste Tag in
meinem ganzen, langen Leben. 
Heute ist Onno gestorben.“


Die Irritation, die der Superlativ „schönste“ in Verbindung mit dem Tod zunächst hervorruft, relativiert sich in der kindlichen Logik des erzählenden Protagonisten. Wie sich seine Trauer um den Fisch Onno in der völlig ungewohnten Emotionalität des Vaters auflöst, wird in tiefgründigen Imitationen kindlichen Sprachgebrauchs veranschaulicht:


Papa hat es nämlich nicht so mit der Gefühlsduselei. 
Sagt er. 
Aber heute hat er sich gefühlt. 
Und das war überhaupt nicht dusselig.“

Dieser Bestandsaufnahme des Ich-Erzählers entsprechend rückt auf den folgenden drei Doppelseiten die Verbundenheit zwischen Vater und Kind in den Fokus, die vom zaghaften Anlehnen über eine innige Umarmung bis hin zum gemeinsamen Liegen auf der Couch reicht – eine richtige „Kuscheltyperei“ eben. Die Exklusivität dieser Nähe manifestiert sich nicht zuletzt in der wiederholten „Überraschung“, die das Kind erlebt: „Das war das Schönste überhaupt. Und eine Überraschung. […] Aber heute. Die Überraschung. In Papas Armen war es weich und warm.“
Was es mit dieser plötzlichen „Gefühlsduselei“ des Vaters auf sich hat, entfaltet sich erst nach und nach zwischen den Zeilen und vor allem im engen Zusammenwirken von Text und Bild. Denn während sich das Kind voller Hingabe den Vorbereitungen von Onnos Beerdigung widmet, wird immer wieder auf die elterliche Beziehung als zusätzliche Erzählebene verwiesen. So dient die hinterlassene Notiz der Mutter an den Vater dem Kind als Vorlage für seinen Abschiedsbrief an Onno: „Ich liebe dich sehr auch wenn du ein eiskalter Fisch bist.“ Die Wichtigkeit dieser Botschaft wird dadurch unterstrichen, dass die Außensicht auf die Figur hier ergänzt wird durch eine Mitsicht mit der Figur und die handgeschriebenen, teilweise verdrehten Großbuchstaben aus dem Blickwinkel des Protagonisten lesbar werden. Fungiert der Fisch in dem ursprünglichen Satz der Mutter allgemein als Metapher für den Vater und ist erst in der Veränderung des Adressaten auch wörtlich zu verstehen, wird die Mutter auch ganz konkret mit dem Fisch Onno verglichen: „Onno war nämlich mein einziger Fisch. So wie Mama Papas einzige Frau ist. Zum Glück ist Mama nicht tot. […] Mama kommt immer wieder.“ Die Verbindung zwischen der Mutter und dem toten Fisch stellt der Protagonist zusätzlich über den Geruchssinn her, indem er Onno in eine Schüssel legt, die er mit den Orchideen und dem Parfüm der Mutter füllt. 
Dass die Erzählung des Kindes von der Chronologie der Ereignisse abweicht, offenbart sich in dem Moment, in dem der Vater das Kind im Bett mit dem nach der Mutter riechenden Fisch findet. Da die Schüssel mit den Blüten bereits auf der zweiten Doppelseite zu sehen ist, werden „Gefühlsduselei“ und „Kuscheltyperei“ erst im Rückgriff als Konsequenzen der Leere sichtbar, die der Fisch im Aquarium und die Mutter in der Familie hinterlassen haben. Diese Leere verstärkt sich durch die Omnipräsenz der Mutter in verschiedenen Gegenständen wie dem Hochzeitsfoto, dem offenen Lippenstift, ihrer Kaffeetasse und Bildern mit Sprüchen wie „Home is where your heart is“ oder „Alles wird gut“. Die vorletzte Seite zeigt sie schließlich beim „Luftschnappen“ außerhalb des familiären Umfelds, bevor sie rechtzeitig zu Onnos „Beerdigung“ zurückkehrt. Da dieser „nicht in den Himmel kommt. Sondern in die Elbe.“ wird die Feierlichkeit im Badezimmer vollzogen, in dem Vater und Mutter mit geschlossenen Augen hinter ihrem orchideenstreuenden Kind stehen und eine harmonische Einheit bilden. Das durch die Typografie hervorgehobene „WIR LIEBEN DICH“ des Vaters ist auch hier nicht eindeutig auf Onno, sondern ebenso auf die Mutter zu beziehen und gleichzeitig eine klare Gefühlsäußerung des „eiskalten Fisches“. Die Diskrepanzen zwischen den Eltern, die durch ihre verschieden gemusterten Kleidungsstücke unterstrichen werden, treten schließlich zurück hinter der gemeinsamen Aufgabe des Abschiednehmens, die sie mit ihrem Kind bewältigen: „Dann haben wir unsere Hände zusammen auf die Klospülung gelegt und gedrückt.“ 
Die erste Doppelseite des Buches, die die Familie zusammen mit einem Fotoalbum auf der Couch zeigt, bildet damit den Endpunkt der Geschichte und gleichzeitig den Anfangspunkt der kindlichen Erzählung. 
Was beim ersten Blick auf das Cover also zunächst als klassische Huckepacksituation erscheint, erweist sich bei genauer Lektüre des kongenialen Schrift- und Bildtextes als vielschichtige ‚Huckepacknehmerei‘. Denn der Vater kann sein Kind letztlich erst Huckepack nehmen, als er zu betroffen ist, um der selbst auferlegten Rolle des starken und steifen Mannes weiterhin zu entsprechen. Das Kind wird in seiner eigenen Traurigkeit von der Traurigkeit des Vaters Huckepack genommen, sodass der Verlust seines Fisches von dem Gewinn väterlicher Nähe überlagert wird. Das Bedürfnis, von seinem Vater getragen und gehalten zu werden, wird dem Kind im Moment der Erfüllung schlagartig bewusst und durch die Kombination von authentischen Schilderungen und eindrucksvollen Bildern nachvollziehbar zum Ausdruck gebracht. 
Diese ästhetische Zuspitzung eines diffusen Mangelgefühls zeichnet schließlich auch das Buch selbst als Huckepacknehmer aus. Denn indem es väterliche Unnahbarkeit und familiäres Ungleichgewicht als Grundmuster menschlicher Erfahrung aufgreift und aus kindlicher Perspektive ausgestaltet, übersetzt es vage empfundene Defizite in eingängige Worte und Bilder und kann somit nicht nur Väter und Söhne auf der Suche nach neuen Männlichkeitsidealen Huckepack nehmen, sondern all jene, die mit emotionaler Unzulänglichkeit konfrontiert sind.  
(Elisabeth Hollerweger)

Frauke Angel (Text) & Elisabeth Kihßl:
Ein eiskalter Fisch.
Innsbruck/Wien: Tyrolia, 2020.
26 Seiten. 16,95 €. Ab 4.